HERAUSGEGEBEN VON GERALD BRAUNBERGER, JÜRGEN KAUBE, CARSTEN KNOP, BERTHOLD KOHLER

Unsere Gesundheit steht auf dem Spiel

Ärzte und Patienten werden zurückstecken müssen, soll die Versorgung auch in Zukunft noch gewährleistet sein.

Im Jahr 2021 kostete das Gesundheitswesen Deutschland 474 Milliarden Euro. Fachleute gehen davon aus, dass es in diesem Jahr mehr als 500 Milliarden sein werden. Darin ist alles enthalten, von der selbstgekauften Kopfschmerztablette bis zur komplizierten Herzoperation.

Das viele Geld im System führt aber nicht dazu, dass alle zufrieden sind, im Gegenteil. Alle klagen: Pflegemitarbeiter, Hebammen, Apotheker, Psychotherapeuten, vor allem aber Patienten und Ärzte. Meistens geht es dabei um zwei Dinge: Geld und Zeit. Beides hängt miteinander zusammen. Ist genügend Geld vorhanden, können Ärzte sich ihren Patienten länger widmen. Muss gespart werden, dann zuerst dort, wo die Arbeit des Arztes am wenigsten einträglich ist, und das sind oft die Patientengespräche. Unter Druck gerät das Gesundheitswesen seit Jahren durch eine immer älter werdende Gesellschaft. Mehr und mehr Menschen müssen regelmäßig zum Arzt. So steigt die Unzufriedenheit auf allen Seiten. Welche Klagen aber sind berechtigt? Und wie lassen sich die Probleme lösen?

Zunächst zu den Ärzten: Immer wieder schließen einige ihre Praxen, weil sie die in ihren Augen „existenzgefährdenden Sparmaßnahmen“ der Politik nicht mehr mittragen wollen. Für die konsequenteste Form des Streiks haben sich die HNO-Ärzte entschieden. Seit Wochen haben sie ambulante Operationen der Gaumenmandeln bei Kindern eingestellt. Ein Kind, dessen Mandeln rausmüssen, bekommt jetzt also keinen Termin mehr dafür in der Praxis. Ein drastischer Schritt.

Kassen haben Verständnis für Streik

Der Hintergrund ist, dass die Ärzte für diese Operation jetzt weniger Geld bekommen, und zwar sieben Euro weniger. Darauf haben sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) als Vertreterin der Ärzteschaft und der GKV-Spitzenverband als Vertreter der Kassen geeinigt. Laut dem Landesvorsitzenden Baden des Berufsverbands der HNO-Ärzte, Michael Deeg, rechnet sich die Mandeloperation damit nicht mehr. „Das war auch schon vorher so“, sagt er. Dass es nun noch weniger wurde, habe „aber das Fass zum Überlaufen gebracht“. Damit stellen sich HNO-Ärzte auch gegen ihre eigene Vertretung, die KBV. Die hatte sich mit den Kassen auf die Kürzung geeinigt. Sie hatte für die Ärzte unterm Strich sogar mehr Einnahmen ausgehandelt. Insgesamt bekommen sie für ambulante Operationen 2,3 Prozent mehr.

Trotzdem haben die Kassen Verständnis für den Streik. „Perspektivisch ist das zu wenig“, sagt Roland Stahl von der KBV. „Die Positionen der HNO-Ärzte mögen sehr pointiert erscheinen, aber sie sind letztlich ein Indiz für eine vorherrschende große Frustration.“ Aus Sicht der Ärzte kommt zu viel zusammen: hohe Energiepreise, knappes und teures Personal, die Inflation und eine seit Jahren kaum gestiegene Vergütung.

Doch das sehen nicht alle so. Florian Lanz, der Sprecher des GKV-Spitzenverbands, sagt: „Ich kann das allgemeine Klagen der Ärzte-Funktionäre nicht nachvollziehen, denn Ärzte in Deutschland verdienen im Schnitt wirklich gut.“ Lanz findet es problematisch, dass im Gesundheitswesen alle versuchten, ihre Interessen durchzusetzen, dabei aber ethisch-moralisch argumentierten. Das erschwere Kompromisse.

Leistungen dürfen Maß des Notwendigen nicht überschreiten

Tatsächlich verdienen Ärzte in Deutschland immer noch ziemlich gut. Im Schnitt nimmt eine Praxis laut Statistischem Bundesamt 602.000 Euro im Jahr ein. Zieht man die Sach- und Personalkosten ab, bleiben im Mittel noch 296.000 Euro übrig. Orthopäden verdienen etwas mehr, Kinder- und Jugendmediziner weniger. Die Zahlen stammen von 2019, neuere sind noch nicht veröffentlicht worden. In der Klinik hängt es von der Erfahrung und Position ab, wie viel ein Arzt verdient. Laut Tarifvertrag bekommt ein Arzt im kommunalen Krankenhaus im ersten Jahr seiner Weiterbildung rund 4900 Euro brutto im Monat. Ein Facharzt verdient rund 6400 Euro, ein Oberarzt etwa 8000 Euro. Nach dem vor Kurzem beschlossenen Tarifabkommen erhalten Ärzte zukünftig 8,8 Prozent mehr Lohn und in diesem wie im nächsten Jahr eine Inflationsausgleichzahlung in Höhe von 1250 Euro netto. Allerdings ist es nicht mehr so leicht verdientes Geld wie früher einmal, und immerhin tragen Ärzte eine große Verantwortung. Soll der Beruf weiter die fähigsten Leute anziehen, muss die Bezahlung stimmen.

Trotzdem kritisiert Johannes Thormählen, Geschäftsführer eines Unternehmens, das die Interessen von etwa siebzig kleineren Krankenkassen vertritt, die Klagen der Ärzte. Er sieht ein Pro­blem darin, dass sich im Gesundheitswesen alle „immer am Maximum orientieren, das ist in der Marktwirtschaft normal. Nur, wir haben im Gesundheitswesen nicht die klassische Marktwirtschaft, sondern eine Solidargemeinschaft der Krankenversicherten.“ Krankenkassen müssten darauf achten, dass das Geld der Versicherten nicht unnötig ausgegeben wird.

Für die gesetzliche Krankenversicherung gilt: Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein, sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Viele Patienten wissen das nicht. Mancher Arzt fühlt sich dadurch eingeschränkt, er kann nicht immer die Therapie anbieten, die er für nötig hält, weil die Krankenkasse die Kosten nicht übernimmt.

Der Brass von Ärzten gilt auch der Gesundheitspolitik

Doch so viele auch über das gesetzliche Krankenkassensystem schimpfen, es gibt Sicherheit. Neunzig Prozent der Deutschen sind gesetzlich versichert, sie wissen, dass sie versorgt werden, wenn sie krank sind. Den Ärzten wiederum bringt ein Kassensitz sichere Einnahmen. Jedem ist freigestellt, ihn aufzugeben und nur noch privat abzurechnen. Daran haben aber nicht alle Ärzte Interesse. Wollen sie weiter Kassenpatienten behandeln, können sie nicht nur die Vorteile dieses Systems genießen, sondern müssen auch die Nachteile in Kauf nehmen.

Doch der Brass von Ärzten gilt auch der Gesundheitspolitik. Sie beklagen, dass das derzeitige System zu „Massenbehandlungen“ und „Zweiminutenmedizin“ führe. Nur Ärzte, die ihre Patienten wie am Fließband behandeln, können sich demnach überhaupt noch eine voll ausgestattete Praxis mit gutem Personal leisten. So fehlt der Blick für den Patienten, auch weil immer mehr fachfremde Personen mitentscheiden. Um ein Krankenhaus zu führen, ist heute Geschäftssinn wichtiger als ärztliches Wissen.

Patienten werden immer unzufriedener

Folgt man der Argumentation der Ärzte, gibt es auch ein Problem mit den Patienten. Immer mehr meinen, dass der Krankenkassenbeitrag ihnen ein Rundum-sorglos-Paket garantiert. Sie erwarten, dass der Arzt jeden Wunsch erfüllt und die Kasse ihn bezahlt. Noch dazu belehren viele ihren Arzt mit Halbwissen aus dem Internet und drohen mit rechtlichen Folgen, falls bei der Behandlung etwas schieflaufen sollte.

Doch auch die Patienten selbst werden immer unzufriedener. Eine aktuelle Umfrage der Robert-Bosch-Stiftung zeigt: Fast sechzig Prozent der Befragten haben wenig oder kein Vertrauen mehr in die Fähigkeit der Politik, für eine hochwertige und zugleich bezahlbare Gesundheitsversorgung zu sorgen. Rund vierzig Prozent sagen, die Versorgung habe sich verschlechtert. Laut dem deutschen Healthcare-Barometer lag die Zufriedenheit mit der Versorgung in den Kliniken vor einem Jahr noch bei 63 Prozent, jetzt bei 51. Im ambulanten Bereich waren im Vorjahr noch 43 Prozent zufrieden mit ihrem Arzt, nun sind es nur noch 37. Hauptkritikpunkt: Ärzte nehmen sich zu wenig Zeit. Dazu fühlen sich die Patienten vom medizinischen Personal nicht ernst genommen oder bemängeln die Organisation der Praxis.

Trotz dieser dramatischen Zahlen gehen die Deutschen gerne zum Arzt – wie OECD-Daten zeigen, rund zehn Mal im Jahr, Zahnarztbesuche nicht mitgerechnet. Der Durchschnitt in den OECD-Staaten liegt bei 6,6 Besuchen. So schlimm, dass Leute seltener zum Arzt gehen, kann es also noch nicht sein.

Reflexartig Widerstand

Wie lassen sich nun all diese Probleme lösen? Die Wirtschaftspsychologin Vera Starker hat gerade ein Buch geschrieben über „New Work in der Medizin“. Sie ist überzeugt, dass es zuerst gelingen muss, die Einzelinteressen zu überwinden. Es brauche eine gemeinsame Vision für das Gesundheitswesen, für die dann auch alle bereit sind, auf einen Teil ihrer Forderungen zu verzichten.

Tatsächlich formiert sich bei jeder größeren Reformidee, kaum ist sie ausgesprochen, reflexartig Widerstand. So auch bei der Krankenhausreform von Gesundheitsminister Karl Lauterbach von der SPD. Kaum waren die ersten Eckpunkte veröffentlicht, lehnten einige Länder die Reform ab, allen voran Bayern. Lauterbach will Krankenhäuser in drei Versorgungsgruppen unterteilen, die höchste soll alles können, von der komplizierten Operation bis hin zum umgeknickten Knöchel. Die mittleren Krankenhäuser sollen etwas weniger können, und die früheren Kreiskrankenhäuser sollen zu ambulanten Zentren werden. Dort würden dann keine größeren Operationen mehr gemacht werden, man könnte sich aber noch behandeln lassen. Kreiskrankenhäuser wären dann nicht mehr das, was die Bürger heute noch darunter verstehen. Wer einen komplizierten Eingriff vor sich hat, müsste weitere Wege in Kauf nehmen. Dafür wäre die Qualität der Behandlung überall gesichert.

Die Probleme werden zunehmen

Natürlich kann man all das ablehnen. Wenn aber in jedem Kreiskrankenhaus operiert werden soll, könnte die Qualität der Behandlung insgesamt leiden, denn das Geld ist jetzt schon knapp. Zudem fehlen Ärzte auf dem Land. Die Deutschen müssen sich entscheiden, was ihnen wichtiger ist: weiter eine erstklassige Behandlung auch für komplizierte Fälle, dafür aber etwas weitere Wege, oder in jedem Ort ein Krankenhaus um die Ecke, in dem dann aber die Behandlung nicht immer den neusten Standards entspricht. Alles wird nicht gehen.

Die Probleme werden zunehmen. Die Deutschen werden älter, Fachkräfte fehlen, Energie- und Personalkosten steigen. Noch dazu wird die Behandlung teurer, weil es mehr und ausgefeiltere Möglichkeiten gibt, Krankheiten zu heilen. Die Versicherten wissen genau, wie sie mit diesem Dilemma umgehen wollen. Im Auftrag des Wissenschaftlichen Instituts der AOK hat das Forsa-Institut Bürger vor die Wahl gestellt, auf Leistungen zu verzichten oder die Kassenbeiträge zu erhöhen. 70 Prozent der Befragten zogen es vor, mehr zu bezahlen, gesetzlich wie privat Versicherte. Eine große Mehrheit will außerdem das Solidarprinzip erhalten. Das stellt auch niemand aus Politik, Ärzteverbänden oder Kassen infrage.

Es könnte die Grundlage sein, um den Mut für echte Reformen aufzubringen. Zum Wesen eines solchen Systems gehört aber auch, dass die Ansprüche aller nie vollständig erfüllt werden können. Das Geld im System ist endlich, man muss überlegen, für was es eingesetzt werden soll. Am Ende zählen zwei Dinge: dass die Qualität der Behandlung gesichert ist, wozu auch gehört, dass sich Ärzte Zeit für ihre Patienten nehmen können. Und dass jeder einen Arzt bekommt, wenn er einen braucht.

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