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„Tatort“ aus München : Am Aschermittwoch ist alles vorbei

Schon mal gesehen? Batic (Miroslav Nemec, links) und Leitmayr (Udo Wachtveitl) ermitteln. Bild: BR/Lieblingsfilm GmbH/Luis Zeno

Im „Tatort: Kehraus“ ist der Fasching für die altgedienten Kommissare Batic und Leitmayr kein Grund zur Heiterkeit. Sie ermitteln unter tieftraurigen Umständen.

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          Nein, die Biographie von Steve Jobs hat Ivo Batic (Miroslav Nemec) nie gelesen. Doch als ihn eine halsstarrige Verdächtige danach fragt, beginnt er, irgendwann doch Namen aufzuschreiben: Leiti, Kalli – das sind die ersten der fünf Menschen, mit denen der Veteran von der Münchner Mordkommission die meiste Zeit verbringt. Hat Jobs, der Tech-Guru, nicht allen, die etwas aus sich machen wollen, geraten, ihren Lebenskreis klug abzuzirkeln? Weil jeder der Durchschnitt seines täglichen Umgangs werde?

          Ein wenig Trost in der Tristesse

          Ursula Scheer
          Redakteurin im Feuilleton.

          Nach mehr als 30 Jahren mit Leitmayr und Batic weiß das „Tatort“-Publikum, das Letzterer nicht ganz so schlecht dasteht. Doch jetzt, zur Faschingszeit, nagt es eben doch an dem Bayern mit den kroatischen Wurzeln, der an den tollen Tagen als Pilot verkleidet flotte Bienchen auf suffseligen Kostümpartys unterhakt. Jenseits der Lebensmitte bekommt der karnevaleske Identitätswechsel allerdings schnell etwas Hoffnungsloses, lässt sich die Vita doch nicht mehr so leicht in andere Bahnen lenken. Und so ist dieser „Tatort“ mit dem Titel „Kehraus“ (Buch Stefan Betz, Stefan Holtz) einer der tristesten seit langem, und nur seinen Hauptdarstellern, allen voran Nemec, ist es zu verdanken, dass er zum Trost wenigstens sacht herzwärmend wirkt in seiner Tristesse bis zum bitteren Ende.

          Dabei fängt alles so feuchtfröhlich an in Irmis Kneipe mit Luftschlangen, Schlager und Kostümierten, die Ivo Batic und sein von alldem genervter Partner Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) dem Promillenebel zum Trotz in der Hoffnung auf Durchblick befragen müssen. Draußen auf der Straße ist der Leichnam eines Mannes gefunden worden, welcher kurz zuvor noch höchst lebendig, doch verdächtig unverkleidet am Tresen Ärger mit einem Rotkäppchen und einem Indianer anzettelte – oder einem „amerikanischen Ureinwohner“, wie die Kommissare beschwipst korrigiert werden.

          Nina Proll als Rotkäppchen

          Das Rotkäppchen, gespielt von Nina Proll, entpuppt sich ausgenüchtert als Frau namens Silke Weinzierl. Ihre besten Tage als Karnevalsprinzessin hat sie schon lange hinter sich, doch die Geschiedene ist eine Person mit Ambitionen, eine Möchtegern-Unternehmerin, die spielt, verliert, wieder alles auf eine Karte setzt – und in der „Höhle der Löwen“ landet. Allerdings nicht in gleichnamiger Fernsehshow für Gründer, sondern in der Privatinsolvenz. Und durch Täppischkeit in Lebensgefahr, die ihren halbwüchsigen Sohn und den Exmann erreicht.

          Trailer : Tatort: Kehrhaus



          Irgendwie ist Silke Weinzierl auf dumme Weise in ein Geldwäschergeschäft mit Südafrika-Connection hineingeschunkelt, eine Nummer zu groß für sie und auch für diesen von der Regisseurin Christine Hartmann ansonsten mit Gespür fürs Milieu inszenierten „Tatort“, der in einem Paralleluniversum ohne Corona-Sorgen spielt. Ein Dummchen von Tätowiererin hat einen Auftritt, eine hexige Vermieterin und ein böser Wolf. Ist Silke über eine Leiche gegangen, um an das Kapital zu kommen, das sie so dringend braucht? Was weiß die alte Dame? Und wer kurvt im weißen Zuhälterauto mit niederländischem Kennzeichen durch München? Auf beruhigende, zuweilen allerdings auch ziemlich einschläfernde Weise altmodisch ist diese Episode, in der die Aufklärung eines Tötungsdelikts umschlägt in den Versuch, das nächste mögliche Verbrechen zu verhindern.

          Im Kern geht es um Silke Weinzierls Sehnsucht, mehr zu werden, als sie ist. Nina Proll bekommt die Gelegenheit, in viele Rollen zu schlüpfen: als gedemütigte Femme fatale, Mutter mit schlechtem Gewissen, schnodderige Lebensretterin und schließlich, in einem überraschend harten Finale, als kaltblütige Königin der Selbstaufopferung und Rache. Es ist erstaunlich, wie vage diese Figur trotz allem bleibt und wie nachhaltig sie Ivo Batics Beschützerinstinkt weckt. Hinter ihr tritt Leitmayr trotz eines unmotivierten Auftritts in Unterhosen als sein eigentliches Gegenüber in die zweite Reihe, und vom ewigen Nachwuchskommissar Kalli (Ferdinand Hofer) bleibt auf diesem müde Richtung Aschermittwoch taumelnden Kostümball vor allem der Versuch in Erinnerung, sich als Bierglas – oder was immer das sein sollte – zu verkleiden. „Sind Sie eigentlich mit Ihrem Leben zufrieden?“, fragt Silke, auf Zeit einlogiert in einer Hotelsuite, Ivo Batic. „Ich hab, was ich brauch“, sagt der. So kann man den Fall auch zusammenfassen.

          Der Tatort: Kehraus läuft am Sonntag um 20.15 Uhr im Ersten.

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